Echtes Tausendgüldenkraut

Centaurium erythraea RAFN 

WESEN: Idealität und Realität 


Wesen und Signatur

 Signatur

«Das Tausendgüldenkraut ist eine Heilpflanze, deren Wesen nur verstanden werden kann, wenn man sie im Zusammenhang mit ihrem natürlichen Standort betrachtet. Das Tausendgüldenkraut gehört zur Familie der Enziangewächse, deren Vertreter meist Bergpflanzen sind, also in den «erhabenen Gefilden» der höheren Regionen zuhause sind. Die meisten Enzianarten empfinden wir als schlicht und schön. An ihrem natürlichen Standort, auf Bergweiden, kommen sie wunderbar zur Geltung. Das Tausendgüldenkraut ist nun ein Enziangewächs, das den angestammten Familiensitz verlassen und sich in den Niederungen angesiedelt hat. Seine Standorte sind Kahlschläge, Wegränder, grasige Hänge und Riedwiesen. Da die Pflanze im Hochsommer blüht und nur etwa 10 bis 40 cm gross ist, wird sie zur Blütezeit umgeben oder gar überwuchert von Gräsern und Dornengestrüpp. Sie kommt also im Unterschied zu den in den Bergen gebliebenen Familienmitgliedern in ihrer Umgebung viel weniger zur Geltung. Der Stengel hat sich dieser Umgebung vollkommen angepasst. Er ist kantig, drahtig und zäh. Wer einmal Tausendgüldenkraut geerntet hat, ist überrascht vom kräftigen Stengel, der nicht zu den zarten Blüten zu passen scheint. Lassen wir nun das Bild der Blüten auf uns einwirken! Kann man sich eine vollkommenere Synthese von schlichter Klarheit mit edler Ausstrahlung vorstellen? Der Adel, die Aura dieser Blüten wird nicht durch komplexe Strukturen bewirkt, sondern durch Schlichtheit und Klarheit der Form sowie durch den Glanz und die Zartheit des rosaroten Farbtons der Blütenblätter und die Leuchtkraft des Gelbs der Staubblätter. Die Blüte des Tausendgüldenkrauts ist von ergreifender Schönheit. Es besteht ein grosser Gegensatz zwischen Standort und Stengel der Pflanze einerseits und ihrer Ausstrahlung andererseits. Ein Tausendgüldenkraut in seiner natürlichen Umgebung im Gestrüpp zu finden (die Pflanze ist selten), ist für mich jedes Mal eine freudige Entdeckung. So mag das Gefühl sein, wenn man einen Edelstein gefunden hat. Im Wesen dieser schlichten Pflanze liegt die Kraft verborgen, eine Brücke zwischen der Klarheit des Geistes und dem wuchernden Lebensdrang zu schlagen.»

Wesen

«Treffender könnte der wissenschaftliche Name des Tausendgüldenkrauts nicht sein. Das Wesen dieser hoch geschätzten Heilpflanze kommt im Zentaur – dem Doppelwesen zwischen Pferd und Mensch aus der griechischen Mythologie – wunderbar zum Ausdruck. Der Zentaur symbolisiert den Zwiespalt des menschlichen Daseins: Auf der einen Seite manifestiert sich eine Körpergestalt mit Instinkten und Bedürfnissen, die gleich derjenigen der Tiere allen Gesetzen der Schwerkraft unterworfen ist. Andererseits aber birgt der menschliche Körper – und dadurch erhebt sich der Mensch über das Tier – ein Seelenleben in sich, das sich im Streben nach Kultur, nach Schönheit und Harmonie, in der Sehnsucht nach höheren Werten ausdrückt. Es ist ein Wesen, das in sich selbst nicht eins ist, denn das aufwärts gerichtete Streben nach Licht und Reinheit und das schwer zu bändigende Naturwesen können nicht zusammenfinden. Sie können weder geeint werden, noch kann der eine Teil negiert, unterdrückt oder auf Dauer sublimiert werden, sie können nur nebeneinander, in gegenseitiger Respektierung bestehen. Diese Gespaltenheit zwischen Idealität und Realität im menschlichen Wesen verursacht bei vielen Menschen einen großen Leidensdruck. Sie haben angesichts ihrer Idealvorstellungen Mühe, den Körper zu akzeptieren, dessen natürliche Ansprüche und Bedürfnisse erfüllt und befriedigt werden müssen und wollen. Es sind Menschen, die ihr Ideal auf den Körper projizieren und durch ihn dann Anerkennung und Liebe suchen – der heute so verbreitete Jugendlichkeits- und Schlankheitswahn ist ein Ausdruck davon. Dies führt bei manchen, oft jungen Menschen zu einem ständigen Pendeln der Gefühle zwischen «himmelhoch jauchzend» und «zu Tode betrübt». Centaurium ist aufgrund seiner Wesenskraft des Bejahens dieser Gespaltenheit hilfreich bei psychosomatischen Krankheitszuständen der Verdauungsorgane, die sich aus einem solchen Leidensdruck entwickeln können. Dazu gehören vor allem Erkrankungen mit mangelnder Verankerung im Leiblichen wie z.B. die Magersucht, in deren komplexer Therapie Centaurium das pflanzliche Mittel der Wahl ist.»

Botanik

Centaurium erythraea RAFN, das Echte Tausendgüldenkraut, gehört zu den Enziangewächsen (Gentianaceae). Die Art ist insgesamt eher selten und tritt vor allem an Waldrändern, Waldschlägen, sonnigen Waldlichtungen und mageren Wiesen auf. Sie klettert nicht so weit ins Gebirge hinauf, wie ihre Verwandten aus der Familie und bleibt eher in flacheren Bereichen. Es ist eine krautige Pflanze, die bis maximal 50 cm hoch wird. Aus einer hellen Pfahlwurzel bildet sich ein aufrechter, vierkantiger Stängel der sich nach oben hin verzweigt. Der Stängel ist kantig und äusserst zäh. Am Boden bildet sich eine Rosette aus verkehrt-eiförmigen Laubblättern, die aber zur Blütezeit oft bereits verwelkt ist. Die Stängelblätter stehen kreuzgegenständig und sind eher länglich-eiförmig. Die gesamte Pflanze ist kahl. Wie kleine, intensiv rosa leuchtende fünfzählige Sterne entfalten sich von Juli bis in den September hinein die Blüten an der Pflanze. Die recht einfach gebauten Blüten mit ihrer klaren Struktur stehen in einem lockeren, trugdoldigen Blütenstand zusammen, die Blumenkrone ist verwachsen. Zieht man vorsichtig an einem rosa Blütenzipfelchen, so löst sich direkt die ganze Krone heraus. Die kleinen Blüten öffnen sich nur bei warmer und sonniger Witterung. Unvergesslich ist der Moment, wenn man das Kraut der wunderschönen und strahlenden Pflanze probiert. Es hat ein intensives Aroma, welches man dieser Pflanze so gar nicht zutrauen möchte: Es schmeckt intensiv gallbitter.

Verwendung

Das Tausendgüldenkraut wird schon seit Jahrtausenden von berühmten Arzneikundigen wie Hippokrates oder Paracelsus als Heilmittel verwendet. Die bittere Pflanze wird als Volksmittel, pflanzenheilkundlich und auch homöopathisch typischerweise bei Magenbeschwerden angewendet. Die Einnahme von Bittermitteln führt zu einer Steigerung der Magensaft- und Speichelsekretion. Dadurch lässt sich der Einsatz von Centaurium erythraea RAFN bei Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden erklären. Neuere Untersuchungen zeigten auch, dass die Wirkung von Bittermitteln weit über die sogenannte reflektorische Wirkung über die Wahrnehmung der Bitterkeit hinausgeht. So ist besonders auch die Anwendung von bitterstoffhaltigen Pflanzen bei depressiven Verstimmungen und als allgemein tonisierende Mittel zur Kräftigung von Körper und Geist von grosser Bedeutung. Häufig wird die getrocknete Pflanze für die Arzneizubereitungen (z.B. zur Zubereitung eines Infuses) verwendet. In der Homöopathie dient als Ausgangsmaterial die frische Pflanze.

Inhaltsstoffe

Centaurium erythraea RAFN gehört zu den Heilpflanzen mit einem stark bitteren Geschmack. Mit einem Bitterwert von 2000 bis 10000 ist die Bitterkeit des Tausendgüldenkrauts einiges stärker als die der Löwenzahnwurzel, jedoch nicht ganz so stark wie diejenige von Enzian oder Wermut einzustufen. Verantwortlich hierfür sind Secoiridoidglykoside, wobei Swertiamarin mengenmäßig die Hauptkomponente darstellt. Des Weiteren findet man typischerweise polymethoxylierte Xanthone und Flavonoide.

Referenzen

  • Hänsel, R. & Steinegger, E. Hänsel / Sticher Pharmakognosie Phytopharmazie. (Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft GmbH, Stuttgart, Deutschland, 2015).
  • Saller, R., Melzer, J., Uehleke, B. & Rostock, M. Phytotherapeutische bittermittel. Schweizerische Zeitschrift fur GanzheitsMedizin 21, 200–205 (2009).
  • Madaus, G. MADAUS LEHRBUCH DER BIOLOGISCHEN HEILMITTEL BAND 1-11. (mediamed Verlag, Ravensburg, 1990).
  • Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC). European Union herbal monograph on Centaurium erythraea Rafn. s.l., herba. EMA/HMPC/277493/2015 (2015).
  • BGA/BfArM (Kommission D). Centaurium erythraea. Bundesanzeiger 44, (1990).
  • Kalbermatten, R. & Kalbermatten, H. Pflanzliche Urtinkturen. (AT Verlag, Aarau, Schweiz, 2014).
  • Kalbermatten, R. Wesen und Signatur der Heilpflanzen. (AT Verlag, Aarau, Schweiz, 2016).

Bilder: Roger Kalbermatten, Kesswil.

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