Stiefmütterchen

Viola tricolor L. 

Wesen: Verletzlichkeit; Echtheit und Schein

Wesen und Signatur

 Signatur

 «Das Wesen des Stiefmütterchens war von allen in diesem Buch beschriebenen Pflanzenwesen am schwierigsten zu erforschen. Während vielen Jahren habe ich mich immer wieder mit diesem Pflänzchen beschäftigt, um sein Geheimnis zu lüften. Die Schwierigkeit liegt im Wesen selbst, das mit dem inneren Sein und dem äusseren Schein zu tun hat. Gerade weil vom Stiefmütterchen äusserlich ein Bild erweckt wird, das den inneren Zustand verbergen soll, ist diese Pflanze so rätselhaft. 

Intuitiv war mir von Anfang an klar, dass das Wesen des Stiefmütterchens mit der Wechselwirkung zwischen innen und aussen zu tun hat. Es entwickelte sich ein inneres Bild, bei dem stets das Innere nach aussen und das Äussere nach innen gekehrt wurde, was ich mit dem Begriff Umstülpung beschreiben möchte. Doch ich konnte dieses Phänomen nicht richtig einordnen, da ich durch meine bisherigen Erfahrungen mit dem Wesen und der Signatur immer davon ausgegangen war, dass jede Pflanze in ihrer äusseren Gestalt ihr naturgegebenes Wesen abbildet. 

Gewiss ist die Natur voller Täuschung und Irreführung. Der Mensch ist sehr einfallsreich und ersinnt immer wieder neue Täuschungsmanöver im Daseinskampf. Auch Tiere haben artspezifische Verhaltensweisen, die Beute- oder Raubtiere zu täuschen, oder sie haben eine Gestalt angenommen, um einen Anschein von Wehrhaftigkeit zu erwecken, der von ihrem wirklichen Zustand abweicht. 

Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen den Täuschungen bei Mensch und Tier, die auf den Lebenskampf oder die Selbstbehauptung ausgerichtet sind, und dem Täuschungsmanöver des Stiefmütterchens. Es bezieht sich wesensgemäss auf das Verbergen einer inneren Verletzlichkeit und Unvollkommenheit. Das Stiefmütterchen gehört zu den wenigen Pflanzen, bei denen man auf relativ einfache Weise eine körperliche Wirkung in der Signatur erkennen kann. Die Blüten haben eine sehr weiche Struktur, einen milden Glanz und vermitteln doch etwas unglaublich Feines. Ihre Struktur kommt derjenigen von gesunder Kinderhaut – Pfirsichhaut – wohl am nächsten. 

Verlassen wir nun den einfachen körperlichen Bezug und versuchen wir das Wesen zu verstehen. Die Gattung Viola (Veilchen), zu der das Stiefmütterchen gehört, hat einige bemerkenswerte Eigenschaften. Von weitem betrachtet wirken alle Veilchen wie bescheidene kleine Blümchen, und in der poetischen Literatur werden ihnen denn auch die Charaktereigenschaften Demut und Bescheidenheit zugewiesen. Treten wir jedoch näher und nehmen so ein bescheidenes Veilchen im wahrsten Sinne des Wortes unter die Lupe, stellen wir einige erstaunliche Dinge fest. Das Pflänzchen ist mit vielen Anhängseln geschmückt. Wenn wir die Blüte von innen und aussen genau betrachten, entdecken wir immer wieder neue Formen, die eigentlich überflüssig wären. Angefangen bei den Anhängseln an den Kelchblättern, dem Sporn des unteren Kronblatts, dem Haarkranz im Schlund der Hauptkrone, den Staubblättern mit ihrer aufgeblätterten Struktur und den kolbenförmigen Fortsätzen bis zur Narbe mit ihrem seltsamen Becher – Zusätze in einem Ausmass, wie es sonst bei Pflanzen unüblich ist. Man könnte sagen, dass sich die Pflanze einige nette Accessoires umgehängt hat. 

Solche Blüten-Accessoires trägt auch das Stiefmütterchen. Bei den Blättern kommt bei ihm aber noch etwas Neues, in dieselbe Richtung Zielendes hinzu. Die Blattformen der übrigen Veilchenarten sind relativ einfach, oft herzförmig, manchmal geteilt, aber dann immer sehr übersichtlich strukturiert. Das Blatt des Stiefmütterchens hingegen treibt ein wahres Verwirrspiel mit uns. Wir haben Mühe, seine Struktur zu erkennen, so kompliziert und zerteilt ist es. Das Verwirrendste ist, dass ein sehr grosser Teil der Blattfläche gar nicht von den Haupt-, sondern von den Nebenblättern stammt. Es gibt keinen regelmässigen Aufbau, kein durchschaubares System in den Blättern, sondern es zeigt sich darin der Versuch, verschiedene Strukturansätze zu verwirklichen, die dann aber wieder verworfen werden. Und ganz besonders sind es die Anhängsel, die Nebenblätter, die zur Hauptsache gemacht werden, während die eigentlichen Blätter in den Hintergrund treten. 

Im gleichen Sinne kann auch die Blütenfarbe gesehen werden. Das Stiefmütterchen ist die einzige Veilchenart, deren Blüte nicht einheitlich – meistens blau – gefärbt ist, sondern sich in drei verschiedenen Farben präsentiert: violett, weiss und gelb. Dadurch betont es ihre Kompliziertheit, welche die Gattung bereits in den vielen Anhängseln zum Ausdruck bringt, dies jedoch dezent und nicht auffällig tut. Durch die auffällige, für Veilchen untypische Färbung bringt das Stiefmütterchen gerade das Gattungstypische, das bei den anderen noch nicht als Wesensmerkmal durchbricht, zum Ausdruck. 

Der Duft des Stiefmütterchens ist sehr fein, parfümartig. Verletzt man ein Pflänzchen, entsteht sofort ein Geruch von ganz anderem Charakter. Die Pflanze enthält reichlich Salicylsäure, die nun den Geruch der geschnittenen Pflanze prägt. Salicylsäure hat einen starken Medizinalcharakter, viele Salben gegen rheumatische Schmerzen enthalten diesen Stoff. Diese Substanz ist zwar auch in anderen Pflanzen enthalten (Weidenrinde, Spierstaude), doch in keiner anderen Pflanze bemerken wir einen so starken Geruch nach diesem Wirkstoff wie im Stiefmütterchen.»

Wesen

«Das Wesen des Stiefmütterchens tritt uns in seiner vielfältigen Gestalt- und Farbgebung entgegen. Diese Pflanzenart kann durch Züchtung in zahlreichen, unterschiedlichen Varianten erscheinen. Es besteht keine unmittelbare Entsprechung zwischen innen und außen, zwischen Wesen und Gestalt. Sein und Schein befinden sich in einem Spannungsfeld. Die Stabilität und Echtheit, wie sie andere Pflanzen durch die Entsprechung von Wesen und Gestalt haben, fehlt dem Stiefmütterchen. 

Das Stiefmütterchen versinnbildlicht den sehr empfindsamen, verletzlichen, komplizierten Menschentypus, der seine Verletzlichkeit mit allen Mitteln – auch kosmetischen – zu verbergen sucht. Es ist ihm ein Anliegen, den Schein, das Gesicht zu wahren. Die Haut als Grenze zwischen innen und außen, als sichtbare Oberfläche soll intakt und schön bleiben. Doch als Ausscheidungsorgan und Spiegel der Seele kann die Haut auch ein physiologisches oder psychisches Ungleichgewicht zum Ausdruck bringen, es sichtbar machen. Viola tricolor L. ist durch sein Wesen spezifisch auf die Bewahrung der Schönheit der Haut ausgerichtet. 

In psychischer Hinsicht vermag das Stiefmütterchen die Aufmerksamkeit auf die Diskrepanz zwischen der inneren Verletzlichkeit und der nach außen getragenen, künstlichen Oberflächlichkeit zu lenken.»

Botanik

Das Wilde Stiefmütterchen, Viola tricolor L., ist eine ein- bis mehrjährige Pflanze die zwischen 10 bis 40 cm hoch wird. Ihre Stängel sind aufsteigend und mit gestielten und gekerbten herz-eiförmigen bis länglich-eiförmigen Blättern besetzt. Die Blattspreiten sind 1 bis 3 cm lang und es sind je 2, meist lanzettliche, Nebenblätter vorhanden. Ab etwa April bis in den September hinein blüht die Pflanzen mit den auffallenden und schönen, bunten und ausgeschmückt wirkenden Blüten. Diese stehen einzeln in den Achseln der Blätter und können bis 3 cm lang werden. Die 5 Kronblätter sind deutlich länger als die Kelchblätter, welche von Anhängsel geschmückt werden. Die zwei oberen Kronblätter sind meist vollständig blau oder blauviolett. Die drei unteren Kronblätter können gelb oder weisslich oder auch nur zum Schlund hin, dem Eingang der Blüte, gelb sein. Insgesamt sind die Kronblätter in der Farbe stark variabel und teilweise auch mit intensiv purpurnen Honigstrichen verziert. Auf diese Farbigkeit der Blüte weist bereits der Name «tricolor», also dreifarbig hin. Das unterste Kronblatt ist stets gespornt. Betrachtet man die Kronblätter genauer, fällt neben der Farbigkeit sofort die samtige, weiche Oberfläche auf. Die Blüten selbst haben einen feinen Duft, die ganze Pflanze hingegen verströmt einen stark medizinischen Geruch, wenn man sie quetscht oder schneidet.
Die männlichen Blüten sind klein und blühen gelbgrün. Sie stehen geknäuelt in einem Blütenstand der an eine Ähre erinnert. Die weiblichen Blüten stehen einzeln oder zu zweit. Sie sind rundlich, grösser und grün. Beim Zerreiben verströmt die Pflanzen einen herben Geruch.

Verwendung

DDie traditionelle Verwendung des Stiefmütterchens, Viola tricolor L., geht bis in die Antike zurück. Bereits im Mittelalter wurde das Stiefmütterchen bei verschiedenen Hautkrankheiten eingesetzt. Des Weiteren zählten Atemwegsbeschwerden, wie Husten und Bronchitis, sowie Harnwegsbeschwerden zu den bekannten Anwendungsgebieten. Die Anwendung bei Hautbeschwerden – insbesondere bei erhöhter Talgproduktion (fettige Haut, Milchschorf der Kinder und häufig mit Akne und Juckreiz vergesellschaftet) und Ekzemen – ist bis heute in der Pflanzenheilkunde und Homöopathie etabliert. Letztere kennt des Weiteren auch die Anwendung bei entzündeten Harnwegen. Bei dieser Heilpflanze ist neben der innerlichen auch die äußerliche Anwendung sehr gebräuchlich. 

Inhaltsstoffe

Das Stiefmütterchen, Viola tricolor L., enthält Derivate der Salicylsäure und Flavonoidverbindungen wie beispielsweise Violanthin und Rutin. Des Weiteren finden sich in Viola neben Phenolcarbonsäuren und Cumarinen auch Schleimstoffe. 

Referenzen

  • Hänsel, R. & Steinegger, E. Hänsel / Sticher Pharmakognosie Phytopharmazie. (Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft GmbH, Stuttgart, Deutschland, 2015).
  • BGA/BfArM (Kommission E). Violae tricoloris herba (Stiefmütterchenkraut). Bundesanzeiger 50, (1986).
  • Madaus, G. MADAUS LEHRBUCH DER BIOLOGISCHEN HEILMITTEL BAND 1-11. (mediamed Verlag, Ravensburg, 1990).
  • Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC). Assessment report on Viola tricolor L. and/or subspecies Viola arvensis Murray (Gaud) and Viola vulgaris Koch (Oborny), herba cum flore. EMA/HMPC/131735/2009 (2010).
  • Kalbermatten, R. & Kalbermatten, H. Pflanzliche Urtinkturen. (AT Verlag, Aarau, Schweiz, 2018).
  • Kalbermatten, R. Wesen und Signatur der Heilpflanzen. (AT Verlag, Aarau, Schweiz, 2016).

Bilder: Roger Kalbermatten, Kesswil

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